Positionspapier des Ethikausschusses des Deutschen Ärztinnenbundes zur Priorisierung medizinischer Leistungen

In Fachkreisen wird bereits seit Jahren über Priorisierungsfragen im deutschen Gesundheitssystem diskutiert. Bisher ist jedoch weder die breite Öffentlichkeit erreicht worden, noch hat sich die Ärzteschaft in gewünschtem Maße an der Debatte beteiligt. Aktuell besteht innerhalb der Ärzteschaft Aufklärungsbedarf darüber, was unter Priorisierung zu verstehen ist. Der Begriff Priorisierung hat in Deutschland mitunter eine negative Konnotation, etwa vergleichbar mit dem Vorenthalten medizinisch sinnvoller und notwendiger Leistungen (Rationierung). Dabei bedeutet Priorisierung (bzw. Posteriorisierung) lediglich eine Klärung und Erstellung von Vor- und Nachrangigkeiten innerhalb der medizinischen Versorgung. Die Kriterien, die zur Bildung solcher Ranglisten führen, sind dabei nicht festgelegt; sie sind verhandelbar. Somit ist Priorisierung als Instrument zu verstehen, das eingesetzt werden kann, um anhand evidenzbasierter Daten aus der Versorgungforschung verschiedene Therapieansätze auf Wirksamkeit, Effektivität und Nutzen zu untersuchen. Dadurch soll in nachvollziehbarer Weise ein verantwortungsvoller Einsatz von Ressourcen zur Versorgungsqualität beitragen.

Der DÄB drängt darauf, dass die Gesundheitspolitik sich dem Thema Priorisierung konsequent und in differenzierter Weise zuwendet. Ziel einer verantwortungsvoll geführten Priorisierungsdebatte ist eine Verbesserung der medizinischen Versorgungsqualität in Deutschland, die durch Bewertung angemessener Versorgungsstandards erreicht werden kann. Dazu sind Kommissionen einzuberufen, die sich mit den Bedingungen und der Erstellung von Priorisierungskriterien befassen. Der Ethikausschuss des DÄB setzt sich zudem dafür ein, dass neben der Beachtung der vorliegenden Stellungnahmen der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer und des Deutschen Ethikrates, die weibliche Perspektive in der Priorisierungsdiskussion angemessen berücksichtigt wird. Vor diesem Hintergrund möchte der DÄB durch eine Online-Umfrage einen Beitrag zur Sensibilisierung für das Thema innerhalb der Ärzteschaft leisten und diese gleichzeitig auffordern, sich nicht nur auf der fachspezifischen, sondern gerade auch auf der normativen Ebene an der Priorisierungsdebatte zu beteiligen. Dies ist insofern dringlich, als Medizinern und Medizinerinnen zunehmend eine verdeckte, bettseitige Rationierung zugemutet wird. Diese implizierte Rollenzuweisung sollte von Ärztinnen und Ärzten konsequent zurückgewiesen werden. Darüberhinaus ist darauf zu achten, dass Ärzten und Ärztinnen ein angemessener und notwendiger Umfang der therapeutischen Ermessensfreiheit selbstverständlich zugestanden wird. Der Deutsche Ärztinnenbund (DÄB) hält es für unerlässlich, dass die in medizinischen Berufen Tätigen in einen offenen Dialog mit politischen Entscheidungsträgern treten, um gemeinsam über erforderliche Rahmenbedingungen zu beraten. Gerade in Zeiten eines zunehmend nach ökonomischen Gesichtspunkten ausgerichteten Gesundheitssystems ist auf entsprechende Gewichtung maßgeblicher ethischer Werte zu achten. Zudem ist Transparenz und Nachvollziehbarkeit bei der Ausarbeitung von Priorisierungskriterien zu fordern.

Dabei stellt sich die zentrale Frage, an welchen Werten die Medizin ihre Ziele ausrichten soll. So ist bei den Überlegungen zur Verteilung der verfügbaren Ressourcen, das Gerechtigkeitsprinzip zu spezifizieren, auf das man sich berufen will. In den Diskussionen, die in anderen europäischen Ländern schon lange geführt werden – wie beispielsweise in Schweden – wurde auf die Bedeutung der Prinzipien: Menschenwürde, Selbstbestimmung, Bedarf und Solidarität, sowie Kosteneffektivität hingewiesen. Zudem zeigen die Erfahrungen, dass die Diskussion über Priorisierungskriterien in der Öffentlichkeit, also auf politischer Ebene angesetzt sein muss. Dabei geht es neben fairen Partizipationsmöglichkeiten selbstverständlich darum, die Interessenkonflikte verschiedener Gruppen – Patientenvertreter, Ärzteschaft, Kostenträger, Pharmaindustrie – transparent darzustellen.

Der DÄB weist ausdrücklich auf die Berücksichtigung folgender Punkte hin:
  • Bei der Auseinandersetzung mit Priorisierungsfragen ist auf den Mangel an klinischen Studien zu geschlechtsspezifischen Fragestellungen hinzuweisen. Der Datenmangel in Bezug auf das weibliche Geschlecht führt zu einem Qualitätsunterschied der Evidenzlage, der für die Beurteilung von Wirksamkeit, Nutzen- und Schadenspotential medizinischer Maßnahmen höchst relevant ist.
  • Der Schutz vulnerabler Populationen muss ein vorrangiges Ziel in der Medizin sein. Bei Bemühung um Rationalisierung und Effizienz im Gesundheitswesen ist in besonderem Maß auf die Berücksichtigung gesellschaftlich Benachteiligter und Bedürftiger sowie auf soziale Ungleichheiten zu achten.
  • Derzeit wird die technikorientierte Medizin zu Lasten der Kommunikationsbereiche gefördert. Im Rahmen von Priorisierungsdebatten ist auf die Unterstützung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient zu achten. Es ist eine Medizin zu fördern, die vermehrt auf kommunikative, berufsgruppenübergreifende und interdisziplinäre Ausrichtung setzt.
  • Bei der Erstellung von Priorisierungskriterien ist auf die transparente Darlegung der Interessenkonflikte von Stakeholdern zu achten. Dazu bedarf es klarer Vorgaben bezüglich der Zusammensetzung der zuständigen Kommissionen. Der DÄB fordert, dass bei der Besetzung der Gremien die Gleichstellung der Geschlechter umgesetzt wird.
Weiterführende Literatur:
  1. Bundesärztekammer (BÄK) Fuchs C: Gerechte Leistungsverteilung muss offen diskutiert werden. Dt. Ärzteblatt 108, 2011
  2. Bundesärztekammer (BÄK) und Zentrale Ethikkommission bei der BÄK: Priorisierung medizinischer Leistungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Stellungnahme. 2007
  3. Buyx A, Huster S (Hrsg): Ethische Aspekte von Public Health. Themenheft. Ethik in der Medizin 22, 3, 2010
  4. Daniels N: Just Health. Meeting health needs fairly. Cambridge 2008
  5. Deutscher Ärztetag: Gesundheitspolitische Leitsätze der Ärzteschaft: Ulmer Papier. 2008
  6. Deutscher Ethikrat: Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen – Zur normativen Funktion ihrer Bewertung. Stellungnahme. 2011
  7. DFG-Forschergruppe „Priorisierung in der Medizin“: Wohlgemuth WA Freitag MH (Hrsg): Priorisierung in der Medizin – Interdisziplinäre Forschungsansätze. 2009
  8. Diederich A: Einstellungen zu Priorisierungen in der medizinischen Versorgung. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung. In: Diederich A, Koch C, Kray R, Sibbel R (Hrsg): Priorisierte Medizin. Ausweg oder Sackgasse der Gesundheitsgesellschaft? 2011
  9. Marckmann G: Priorisierung im Gesundheitswesen: Was können wir aus internationalen Erfahrungen lernen? Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen 103, 2009
  10. Meyer T, Raspe H: Wie können medizinische Leistungen priorisiert werden? Ein Modell aus Schweden. Gesundheitswesen 71, 2009
  11. Nussbaum MC: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Berlin 2010
  12. Rauprich O, Marckmann G, Vollmann J (Hrsg): Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin. 2005
  13. Sen A: The Idea of Justice. London 2010
  14. Stumpf S: Priorisierung in der medizinischen Versorgung: Zwei Missverständnisse. Ärztin 2013

Dr. Gabriele du Bois
Dr. Dorothee Dörr
Mai 2014
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