Schmerz: Geschlechtsspezifik erfordert detaillierte Studien

HINTERGRUNDINFORMATION

Pressemitteilung
02.11.2005
Rund 30 Referentinnen und Referenten vermittelten beim 29. Wissenschaftlichen Kongress des Deutschen Ärztinnenbundes e. V. (29. September bis 2. Oktober 2005 in Berlin) Erfahrungen und Erkenntnisse aus ihren jeweiligen Fachgebieten. Schmerz wurde damit als ein Phänomen charakterisiert, das nicht nur die meisten medizinischen Fachgebiete berührt, sondern auch eine besondere Herausforderung an Diagnostik und Therapie darstellt. Fazit aller Ausführungen war die Forderung nach einer verstärkten genderspezifischen Aufarbeitung der Schmerzerkennung und -behandlung. Umfassende und detaillierte Studien sind dringend notwendig, um wissenschaftlich fundierte Grundlagen für eine effektivere Behandlung von Schmerzen bei Frauen und Männern, Kindern und alten Menschen schaffen zu können.

Aus den Vorträgen:

Dr. Simone Sörries, Bad Bentheim, und Dr. Marlis Winnefeld, BfA, berichteten, dass Reha-Patientinnen bei Erkrankungen des Haltungs- und Bewegungsapparates häufiger als Männer Schmerzsymptome und chronische Schmerzen angeben. Sie nehmen häufiger Reha-Maßnahmen in Anspruch, gehen aber mit den dort erbrachten schmerzlinderungsorientierten Leistungen kritischer ins Gericht.
„Rehabilitation bei chronischen Schmerzkrankheiten des Haltungs- und Bewegungsapparates – gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede?“
Dr. Simone Sörries, Chefärztin Orthopädie, Fachklinik Bad Bentheim (Tel. 059 22 74 0)
Dr. Marlis Winnefeld MPH
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte
Abteilung Rehabilitation (dr.marlis.winnefeld@bfa.de)


Dipl. Psych. Claudia Denke, und Dr. Eva Hoffmann, Berliner Charité, verwiesen auf die unterschiedlichen Wahrnehmungsbereiche von Frauen und Männern. Bei letzteren sind der Clusterkopfschmerz und Schmerzen im Lendenwirbelbereich in ihrer Häufigkeit signifikant. Spannungskopfschmerz, aber auch Migräne, Schmerzen im Hüftgelenk, in Hals- und Brustwirbelsäule sowie Bauchschmerz dominieren bei Frauen.
Der Zusammenhang zwischen Hormonen und Schmerzempfinden sei, so die Vortragenden, noch ein spannendes Feld für weitere Untersuchungen, die vor allem der Schmerztherapie nach Operationen dienen werde.
„Psychobiologische Grundlagen und Genderaspekte des Schmerzes“
Claudia Denke (claudia.denke@charite.de), Eva Hoffmann (eva.hoffmann@charite.de)
Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin
Campus Virchow-Klinikum
Charité, Humboldt-Universität zu Berlin


„Ist Schmerz messbar?“ – eine Antwort darauf gab Dr. Gabriele Lindena, Kleinmachnow, mit ihrem Vortrag über den Deutschen Schmerzfragebogen, in dessen Ad-hoc-Kommission die Wissenschaftlerin mitwirkte. Die Erfassung der Differenziertheit bei Schmerzempfindungen, Intensität des Schmerzes, Leidensdruck ist eine wichtige Voraussetzung für Therapiewirksamkeit. Dr. Lindena sprach sich zudem für eine Vielfalt der Therapieangebote aus.
„Der Deutsche Schmerzfragebogen – ist Schmerz messbar?“
Dr. Gabriele Lindena, CLARA Clinical Analysis Research and Application,
Kleinmachnow (gabriele.lindena@t-online.de)


Dr. Dörte Althoff, Kiel, ging u. a. auf die Wirksamkeit von Medikamenten bei Migräne – wovon 14 Prozent der Frauen, aber nur sieben Prozent aller Männer betroffen sind – ein. Auch sind hormonell bedingte Zusammenhänge erkennbar. So ist die menstruationsassoziierte Migräne häufig therapieresistent gegenüber Schmerzmitteln und schwächeren Triptanen. Alternativ sollten stark wirkende Triptane und lang anhaltende Schmerzmittel gegeben werden.
„Genderaspekte und Kopfschmerzen“
Dr. med. Dörte Althoff, Neuro-Verhaltensmedizinische Schmerzklinik Kiel (althoff@schmerzklinik.de)


Prof. Dr. Enno Freye, Düsseldorf, sieht für das differenzierte Schmerzempfinden von Frauen und Männern wesentliche Ursachen in der unterschiedlichen Aktivierung schmerzrelevanter Areale im Gehirn. Frauen, so Freye, aktivieren Schmerz über das limbische System, über die Emotionen. Das erklärt auch ihre Art der Schilderung von Schmerzen. Bei Männern wird der Schmerz kognitiv aktiviert und wahrgenommen, was sich wiederum in ihrer Art, ihn zu schildern, widerspiegelt. Diese Unterschiedlichkeit kann ursächlich auf hormonelle Differenz zurückgeführt werden. Hohe Östrogenspiegel aktivieren Schmerz. Die unterschiedliche Ansprechbarkeit von Opioiden bei Frauen und Männern belegt diese These. Freye fordert deshalb u. a., mehr diagnostisches Instrumentarium zu entwickeln, um diese Unterschiede exakt nachzuweisen und in der Therapie zu nutzen.
„Schmerz lass nach – Mann und Frau – worin besteht der Unterschied?“
Prof. Dr. Enno Freye, Abteilung für Gefäßchirurgie, Universität Düsseldorf (enno.freye@uni-duesseldorf.de)


Dass Zahn- und Kieferschmerzen nicht notwendigerweise ihre Ursache in diesem Bereich haben, belegten PD Dr. Ingrid Peroz und Dr. Erika Paulisch, Charité, Berlin. Als interdisziplinäre Aufgabe wollen die Wissenschaftlerinnen den Problemkreis Psychodentales Syndrom betrachtet wissen. Die Oralregion ist ein Projektionsfeld innerpsychologischer Probleme, postulieren sie. Peroz, die eine Kiefergelenksprechstunde leitet, berichtet, dass signifikant mehr Frauen dort vorstellig werden. In der Anamnese sind Stressbelastung, muskuloskelettare Erkrankungen, Muskelverspannungen feststellbar, aber auch der Einfluss von Menstruationsphasen auf die Schmerzempfindungen im Kiefergelenkbereich.
„Das psychodentale Begleitsyndrom – eine interdisziplinäre Aufgabe“
Priv. Doz. Dr. Ingrid Peroz (ingrid.peroz@charite.de), Dr. Erika Paulisch (erika.paulisch@charite.de)
Zentrum für Zahnmedizin
Abteilung für Zahnärztliche Prothetik und Alterszahnmedizin
Campus Mitte, Charité, Humboldt-Universität zu Berlin


Als „Stiefkind der Schmerzforschung“ bezeichnet Prof. Dr. Babette Simon, Marburg, den chronischen Bauchschmerz. Er tritt vorwiegend bei Frauen auf. Zusammenhänge zwischen Schmerzempfindung und sozialem Status wurden ebenfalls festgestellt. So werden die Lebensbeeinträchtigungen durch Bauchschmerz von Frauen mit geringerer Schulbildung und niedrigerem Einkommen stärker empfunden als von anderen Betroffenen. Der Reizdarm als häufigste gastroenterologische Diagnose der westlichen Welt ist laut Simon ebenfalls noch ein unerforschtes Thema. Während Frauen häufiger Obstipation angeben, ist es bei Männern die Diarrhoe. Diese Erkrankungen stellen einen beträchtlichen Faktor in den Gesundheitskosten dar und beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen immens.
„Chronischer Bauchschmerz. Sex- und genderspezifische Aspekte“,
Prof. Dr. med. Babette Simon, Health Care Management, Klinikum der Philipps-Universität Marburg (simon@med.uni-marburg.de)


Noch Anfang der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Säuglinge und Kleinstkinder ohne ausreichende Narkose operiert, weil man davon ausging, dass diese noch keine Schmerzen empfänden. Dr. Christine Wamsler, Datteln, führte aus, dass heute das Wissen über die Schmerzempfindungen von Kindern gesichert sei – und zwar dahingehend, dass Kleinstkinder sogar in hohem Maße Schmerzen empfinden, weil Bewältigungsmechanismen ungenügend ausgebildet seien. Beziehungsstörungen, Ängste und Unsicherheiten sind bei älteren Kindern häufig Ursache für Kopf- oder Bauchschmerzen. Eine Therapie könne deshalb nur unter Berücksichtigung solcher Faktoren sinnvoll sein und müsse in der Regel die Familie und das Umfeld einbeziehen.
„Schmerzempfindung und Schmerzverarbeitung bei Kindern“
Dr. med. Christine Wamsler, Vestische Kinder- und Jugend-Klinik, Datteln (christine.wamsler@web.de)


Als markantes Beispiel einer Schmerzerkrankung gilt die Fibromyalgie, der sich mehrere ReferentInnen zuwandten. Dr. Mechthild Gesmann, Bad Salzuflen verweist auf den hohen Anteil von Frauen, die unter dieser komplexen Erkrankung leiden. In den westlichen Industriestaaten betrifft dies 3,4 Prozent aller Frauen (Männer: 0,5 Prozent) Dass es für die Fibromyalgie keine international akzeptierten Diagnosekriterien gebe, erschwere die Bewertung und Therapie dieser Erkrankung. Hormonbedingte Aspekte konnten auch hier festgestellt werden. So haben betroffene Patienten prä- und perimenstruell mehr Schmerzen als nach der Menstruation. Ein niedriger Spiegel von Östrogen und Progesteron scheint eine höhere Sensitivität hervorzurufen, das zeige sich auch bei Patientinnen.
„Fibromyalgie“,
Dr. med. Mechthild Gesmann, Leitende Oberärztin, Abteilung Orthopädische Psychosmonatik, Kliniken am Burggraben, Bad Salzuflen (Tel. 05222 37 46 019)


In einem hohen Maße sind Schmerzerkrankungen und oftmals ins Leere laufende Therapieversuche beteiligt an den enorm wachsenden Gesundheitskosten in den Industriestaaten. Dr. Ruth Deck, Lübeck, verwies auf direkte und indirekte Kosten, die aus dem Krankheitsbild Schmerz entstehen. Verschiedene Erhebungen zeigen, dass z. B. eine Patientin mit chronischen Rückenschmerzen 96 Arbeitsunfähigkeitstage im Jahr hat (bei Männern 86 Tage). Man könne davon ausgehen, dass im EU-Raum jährlich rund 10 Milliarden Euro für direkte medizinische Leistungen bei Rückenschmerzen ausgegeben werden. Die Kosten für verloren gegangene Arbeitszeit belaufen sich im gleichen Zeitraum noch einmal auf 10 bis 15 Milliarden Euro.
„Sozialmedizinische Konsequenzen von chronischen Schmerzen“,
Dr. med. Ruth Deck, Institut für Sozialmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein – Campus Lübeck (ruth.deck@sozmed.uni-luebeck.de)


Der Schmerzmittelmarkt in seiner unübersichtlichen Vielfalt und die „Metamorphosen“ der Pharmahersteller in der Produktentwicklung erschweren die Therapie von Schmerzpatientinnen. Im schlechtesten Fall befördern sie Suchtverhalten und Abhängigkeit. So das Fazit des Vortrags von Dr. Ulrike Faber, Berlin. Trotz oft aus werblichen Gründen anders lautender Informationen für Patientinnen bergen z. B. die Mischanalgetika ein hohes Missbrauchspotenzial. Faber wünscht sich mehr und exaktere Patientinneninformationen gerade zum Analgetikagebrauch. Der Beipackzettel reiche dazu oft nicht aus. Er wird laut Umfragen von 60 Prozent der Frauen gelesen.
„Analgetika und Gender“,
Dr. rer. nat. Ulrike Faber, Barmer ErsatzKasse Berlin-Brandenburg, Stabsstelle Arzneimittel (ulrike.faber@barmer.de)


Landläufig gelten Krebserkrankungen und vor allem der Brustkrebs als am meisten gefürchtete Todesursache bei Frauen. Für Frauen oberhalb der 65 aber sind dies in der Realität vielmehr die Herzerkrankungen, die in ihrer Symptomatik und auch in ihren Risikofaktoren viel stärker geschlechtsspezifisch zu bewerten sind, als dies zur Zeit der Fall ist. Dr. Friederike Kendel, Berlin, untersuchte die koronare Bypass-Operation im Geschlechtervergleich. Wenngleich Risikofaktoren wie Rauchen und Diabetes bei Männern wie Frauen auftreten, so müssen sie doch unterschiedlich bewertet werden. So ist die Infarktgefahr durch das Rauchen bei Frauen um das Zehnfache höher als bei Männern, sofern sie vor dem 14. Lebensjahr damit begonnen haben. Nachgewiesen ist auch, dass Frauen häufiger an Herzattacken sterben als Männer. Signifikant höher ist auch die Zahl der Frauen, die nach einer Bypass-Operation versterben, zumal im jüngeren Alter. Inwieweit Hormone, Lifestyle und weitere Faktoren beim Entstehen von Herzerkrankungen bei Frauen beteiligt sind, wird jetzt in einer größeren Studie an der Charité und dem Deutschen Herzzentrum Berlin untersucht.
„Die koronare Bypass-Operation im Geschlechtervergleich“,
Dr. med. Friederike Kendel, Charité - Universitätsmedizin Berlin
Institut für Medizinische Psychologie (friederike.kendel@charite.de)


Dr. Gisela Ohm-Maschler, Lübeck, beleuchtete das Thema „Schmerzen“ mit den Methoden eines medizinischen Theorie-Gebäudes, das seine Wurzeln in einem anderen Kulturkreis hat. Die Grundprinzipien chinesischer Denkweise wurden vorgestellt, ohne deren Kenntnis sich die chinesische Medizin nicht erschließt. Grundgedanken zur Pathophysiologie des Schmerzes wurden erörtert und die Möglichkeiten der Behandlung aufgezeigt, um so die Funktionsweise der Akupunktur in der Schmerztherapie zu verstehen und ihren Stellenwert einzuordnen zu können.
„Schmerzbehandlung mit Traditioneller Chinesischer Medizin / Akupunktur“,
Dr. med. Gisela Ohm-Maschler, Lehrbeauftragte für Akupunktur, Universität Schleswig-Holstein, Campus Lübeck (info@ohm-maschler.de)


Geschlechtsspezifische Unterschiede und eine unterschiedliche Schmerzwahrnehmung gibt es auch bei Rheuma. Das stellt Rheumatologen vor neue Herausforderungen, unterstrich Prof. Dr. Erika Gromnica-Ihle, Berlin. So weiß man heute: Bei Frauen und Männern mit gleicher rheumatischer Erkrankung bestehen unterschiedliche Phänotypen sowie Variationen in der Schmerzsymptomatik.
So kann z.B. eine Frau, die an einem Morbus Bechterew erkrankt ist, ihr ganzes Leben deutlich mehr entzündliche Rückenschmerzen haben als der männliche Bechterew-Kranke. Die Bechterew-Patientin neigt weniger zu Versteifungen, wird aber von stärkeren Schmerzen geplagt und benötigt mehr Schmerzmittel als der männliche Bechterew-Patient, dessen Wirbelsäule vollständig ankylosiert sein kann.
„Rheumatische Schmerzen“,
Prof. Dr. Erika Gromnica-Ihle, Berlin (gromnica-ihle@snafu.de)


Mit den Anforderungen an einen effektiven „Versorgungsweg“, der für die Therapie von Schmerzpatienten dringend notwendig ist, befasst sich Dr. Erika Schulte, Leiterin der Schmerzambulanz der Berliner Charité. Wie gelangen Informationen über Schmerzbehandlung an die PatientInnen? Welche Informationskanäle werden bevorzugt? Welche Rolle spielen dabei die Vorbehandler? Welche Erwartungshaltung haben Patientinnen und Patienten in Bezug auf die Therapie in der Schmerzsprechstunde? Die Versorgungsforschung in Bezug auf eine sinnvolle Schmerztherapie steht noch vor vielen Fragezeichen. Fest steht jedoch, dass auch ein solches Konzept geschlechtsspezifischen Anforderungen Rechnung tragen muss.
„Versorgung von Patient/innen mit chronischen Schmerzen“,
Dr. med. Erika Schulte, Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin,
Campus Virchow-Klinikum, Charité, Humboldt-Universität
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