Dr. med. Iris Veit
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Angst und Unsicherheit in Zeiten des Klimawandels: Eine ärztliche Aufgabe

Ist die Klimaveränderung ein Thema, das unseren ärztlichen Alltag in der Versorgung berührt? Viele von Ihnen werden dies bejahen. Doch hier möchte ich den Blick über definierte Störungen im Zusammenhang mit dem Klimawandel hinaus richten. Wird sich der Charakter unserer Gesellschaft durch die Krisen und zunehmenden Katastrophen verändern? Und was bedeutet das für Ärzt:innen?

Als Ärzt:innen wissen wir um die gesundheitlichen Folgen von Hitzeereignissen: Neue Krankheitsbilder werden auftreten – und mehr psychische Erkrankungen. Es ist zum Beispiel bekannt, dass es nach extremen Wetterereignissen mehr Gewalt gibt. Auf Hitze folgen höhere Suizidraten und bei bedrohten Ethnien wie den Inuit steigen die Suizidraten allgemein. In ähnlicher Weise sind auch Menschen, die bereits an einer psychischen Krankheit leiden, anfälliger für eine Verschlechterung ihrer Erkrankung.

Das alles wissen wir als Ärzt:innen. Aber wie wird die Klimakatastrophe den Grundzustand unserer Gesellschaft verändern, ihren Charakter? Was ist bereits bekannt über die Gefühlslage der Deutschen jenseits der medial getriggerten Wahrnehmung?

Jede:r Zweite ist besorgt


Der Gesellschaftscharakter umfasst jene Eigenschaften, die durch die gemeinsame Lebensweise und Grunderlebnisse, durch gesellschaftstypische Erwartungen, durch die Anforderungen an ein angepasstes Verhalten beziehungs­weise durch die Unterdrückung von abweichendem Verhalten vermittelt werden. Über die Entwicklung gibt es in Deutschland wenige durch soziologische Evidenz basierte Daten. Positiv hervorzuheben ist das Sozioökonomische Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (SOEP). Es erfasst die Sorgen der Menschen in Deutschland seit Jahrzehnten und Daten liegen bis 2019 vor. Die Zahlen stammen von 30 000 Befragten aus 1500 Haushalten. Einige Ergebnisse: Die Sorgen um die persönliche Situation und einen sozialen Abstieg haben sich über Jahrzehnte bis 2018 nicht wesentlich verändert. Sie sind bei ärmeren Menschen größer als bei reicheren.

2018 trieb der Klimawandel rund ein Viertel der befragten Menschen um. 2019 waren es dann knapp 50 Prozent. Während der Pandemie sind die Sorgen um die eigene Gesundheit gestiegen. Sie plagen nun 25 Prozent der Befragten. Auch ist die Einsamkeit der in Deutschland lebenden Menschen gewachsen. Depressions- und Angstsymptome stiegen, laut SOEP, bei Frauen, jüngeren Menschen und Menschen mit Migra­tionshintergrund.

Eine internationale Studie von Hickman C. et al. in Lancet Planetary Health von 2021 berichtet über eine Umfrage unter 10 000 Jugendlichen aus 10 Ländern: 59 Prozent der Befragten sind sehr oder extrem besorgt über die Auswirkungen des Klimawandels. 75 Prozent sind sehr besorgt über ihre Zukunft. Fast jede
beziehungsweise jeder Zweite fühlt sich bereits in täglichen Lebensfunktionen beeinträchtigt. Generell haben sich seit der Pandemie psychische Erkrankungen weltweit verdreifacht.

Die verunsicherte Gesellschaft

Zukünftig wird der Verlust von Wohlstand und von Gewohntem die Sorgen wachsen lassen. Noch mehr Menschen werden sich einsam fühlen. Auf jeden Fall werden die Befürchtungen um die Zukunft der Erde und ihrer Menschen weiter zunehmen.

Unser aller subjektive Sicht auf die Welt als Möglichkeitsraum wurde durch den Klimawandel er­schüttert – und jetzt noch mehr durch den Ukraine-Krieg. Wir sind nicht allmächtig, sondern wir sind verwundbar. Doch der Begriff „Angstgesellschaft“ trifft es nicht ganz. Zutreffender ist es, von einer „verunsicherten Gesellschaft“ zu sprechen. Allerdings wird demnächst ein wachsender Teil mehr als verun­sichert sein, vielmehr verzweifelt und resigniert. Was bedeutet das für Ärzt:innen? Eine andere Studie von Kotcher J. et al. in Lancet Planetary Health hat es untersucht: Momentan geben viele Ärzt:innen an, es mangle ihnen an Zeit, sich im ärztlichen Alltag auch noch für diesen Aspekt zu engagieren – obwohl sie zugleich überzeugt sind, dass der Klimawandel die Gesundheit ihrer Patient:innen be­einflusst. Doch ein sich ändernder Gesellschaftscharakter wird Ärzt:innen keine Wahl lassen.

Was passiert in uns?

Wie lassen sich Angst und Unsicherheit psychodynamisch definieren? Unter Unsicherheit verstehen wir die mangelnde Fähigkeit, Mehrdeutigkeit auszuhalten und Entscheidungen bei mehreren Möglichkeiten zu treffen. Angst treibt Menschen dazu, ihr Ich aus einer Ge­fahrenzone zu bringen und hat körperliche Folgen: die neurophysiologische Stressreaktion und Reaktionen der Vermeidung.

Mit Angst und Unsicherheit können Menschen unterschiedlich umgehen:
  • Sie schränken das Denken ein, um der schlecht auszuhaltenden Mehrdeutigkeit zu entgehen. Aus Angst entwickelt sich zudem ein hypnotischer Sog zur Vereinfachung: Es gibt nur Gut oder Schlecht, Schwarz oder Weiß. Man sucht die Anlehnung an Gruppen, die die vereinfachte Sicht und das Verdrängen unterstützen und Realitätsverzerrung sowie das Aufblühen von Verschwörungstheorien fördern. Das haben wir bereits während der Pandemie erlebt.
  • Gefühle, die man nicht haben will, werden anderen angelastet. Aus Angst können destruktive Dynamiken entstehen. Es wächst das Bedürfnis nach einem Gegner. Das zeigt auch die teilweise Eskalation von Gewalt während der Pandemie. Wir müssen uns einstellen auf destruktive Dynamiken auch im zwischenmenschlichen Bereich, auf den Verlust von Humor, auf Schwarz-Weiß-Sehen und die Eskalation von verbaler Gewalt.
  • In Zeiten der Angst und Unsicherheit streben Menschen nach einer größeren Berechenbarkeit der Welt und versuchen, die Kontrolle zu behalten.
  • Ein gegenteiliger Umgang mit Unsicherheit: Zunahme der Solidarität, die Suche nach Bindung zu anderen, nach Kooperation und Lösungen im Handeln.

Was können wir tun?

Welche Aufgabe stellt sich damit den Ärzt:innen, als Erstes den Hausärztinnen und Hausärzten? Wie kann das Potenzial der Beziehung Patient:in-Ärzt:in genutzt werden für individuelle und gesellschaftliche Transformation? Wir werden mehr Menschen mit Unsicherheit begegnen, die ihre bisherige Sicht auf die Welt verlieren, die den Verlust des Gewohnten befürchten, die Mehrdeutigkeit nicht aushalten und sich stattdessen nach Autoritäten und vermehrter Kon­trolle umsehen.

Wir werden mehr Patient:innen mit Krankheitsangst und definierten Angststörungen begegnen, mehr traumatisierten Menschen. Und wir werden es häufiger mit Betroffenen von Gewalt in persönlichen Beziehungen und in den Familien zu tun haben. Unsere Aufgabe ist folglich größer, als zu klimagerechtem Verhalten zu motivieren!

Als Ärzt:innen können wir qua Amt sta­bilisierend einwirken. Eine vertrauens­volle Beziehung und das Gefühl, verstanden worden zu sein – davon kann eine heilsame Kraft ausgehen. Wir haben in der Pandemie erlebt, welch beruhigende Wirkung von der Vermittlung medizi­nischen Wissens ausgehen kann, und von dem Mitteilen, dass die Dinge verstanden werden können. Wir können daher psychoedukativ wirken.

Wir können das Nachdenken durch Fragen anregen und damit das Aushalten von Mehrdeutigkeit fördern. Wir wissen auch, dass gemeinsames Handeln ein Ausweg aus der Angst ist. Wir können uns dabei auf viele Erfahrungen während der Pandemie stützen: das Erlebnis von Solidarität, Kooperation und davon, was alles möglich gemacht werden kann. Wir können zum Handeln auffordern.

Eine Stimme geben

Vertrauen hilft. Patient:innen profitieren nicht von moralisierenden Belehrungen, sondern davon, sie zum Nachdenken anzuregen und zum Handeln – auf der Basis einer vertrauenden Beziehung zwischen Patient:in und Ärtzt:in.

Auch wir Ärzt:innen, die wir selbst auch von Verunsicherungen und Verlusten be- troffen sind, können uns über das Enga­gement in unseren Praxen hinaus in der Zivilgesellschaft engagieren, informieren und denen eine Stimme geben, die sonst keine haben, Kooperationen anregen und Netzwerke für unsere Pa­tient:innen nutzen.

Dr. med. Iris Veit ist Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapeutin, Expertin für die Psychosomatische Grundversorgung und hat einen Podcast zu Themen rund um die hausärztliche Medizin.

E-Mail: info@irisveit.de
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