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Diskriminierungsfreier Mutterschutz: Mut und Erkenntnisforschung zur verantwortungsvollen Gestaltung

Frauen haben dieselben Rechte wie Männer. Falls die Gleichberechtigung der Geschlechter nicht erreicht ist, müssen Staat und Gesellschaft tätig werden. Frauen haben das Recht auf freie Berufswahl und Berufsausübung und damit auch auf Berufsbildung wie Männer. All dies ist verfassungsrechtlich verankert. Faktisch ist der Weg vom Medizinstudium zur Chefärztin oder Medizinprofessorin für viele Frauen bis heute steiniger als für Männer.

Frauenfördernd wirkt sich die Nachfrage nach Fachkräften aus. Nicht selten ziehen Klinikleitungen und Medizinerinnen an einem Strang, wenn es um Kontinuität in der Ausbildung und Beschäftigung geht. Die Perspektiven der beiden Seiten unterscheiden sich allerdings bisweilen deutlich. Was sich aus weiblicher Sicht als Durchsetzung eines Menschenrechts darstellt, ist aus personalwirtschaftlicher Sicht eine ökonomische Kennzahl.

Aufgabe von Verfassungsrang

Nicht erst seit der gesetzgeberischen Reform des Mutterschutzrechts im Jahr 2017 treten im oben beschriebenen Zusammenhang besondere Herausforderungen zutage. Frauen und ihre (ungeborenen) Kinder müssen vor den gesundheitlichen Risiken während der Schwangerschaft, nach der Geburt und in der Stillphase besonders geschützt werden. Die Vulnerabilität und der damit verbundene besondere Gesundheitsschutz von (werdender) Mutter und (ungeborenem) Kind sind unbestritten. Ebenso wie die Geschlechtergleichstellung sind sie eine Aufgabe von Verfassungsrang.

Jahrzehntelang galten dazu fürsorgliche Beschäftigungsverbote als das zentrale Schutzinstrument. So war es im Mutterschutzgesetz der Bundesrepublik seit 1952 bis zur jüngsten Gesetzesreform nahezu unverändert geregelt. Die gesamte Rechtssystematik war auf einen Mechanismus ausgelegt: Mitteilung der Schwangerschaft und Ausspruch eines Beschäftigungsverbotes mit gleichzeitigem Entgeltersatzanspruch für abhängig beschäftigte Frauen.

Seit den 1970er Jahren jedoch wurde über die negativen Wirkungen speziell frauenschützender Normen diskutiert. Bekannt ist vor allem die Aufhebung des gesetzlichen Nachtarbeitsverbotes allein beschränkt auf Frauen. Gesundheitsschutz darf nicht einseitig Frauen von ihrer beruflichen Teilhabe ausschließen. Diese Erkenntnis wurde in Deutschland nicht auf den Mutterschutz übertragen. Die Stimmen für einen diskriminierungsfreien Mutterschutz erlangten erst im Zuge der Reform des Mutterschutzrechts Gehör und Gewicht.

Anpassung vor Verbot

Seit 1.1.2018 gilt gemäß Paragraf 1 des Mutterschutzgesetzes, dass Frauen durch mutterschutzspezifische Maßnahmen in Ausbildung und Beruf nicht benachteiligt werden dürfen. Das Mutterschutzgesetz ist gegenüber dem Normbestand aus 1952 deutlich modernisiert worden. Heute lässt sich der mit dem Mutterschutzrecht bezweckte Mechanismus auf folgende Formel komprimieren: „Kommunikation der Risiken und Schutzmaßnahmen auf Basis der Gefährdungsbeurteilung und zusätzliche Anpassung der Beschäftigungssituation bei Eintritt eines Mutterschutzfalls.“

Zur Verfügung gestellt von Prof. Nebe

Die Abbildung zeigt den Kreislauf der Präventionsmaßnahmen. Dabei spielen die – noch sogenannten – Beschäftigungsverbote erst als letztes Mittel eine Rolle. Besser bezeichnet wären sie als Expositionsverbote. Demnach kommt eine Freistellung von der gewohnten Tätigkeit überhaupt erst in Betracht, wenn sich eine Gefährdung nicht durch andere Gestaltungs- oder Anpassungsmaßnahmen beseitigen lässt. Die Rangfolge der gesetzlich vorgesehenen Schutzmaßnahmen – Umgestaltung der Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzwechsel und zuletzt ein Beschäftigungsverbot – dient der gleichberechtigten Teilhabe der Frau an Ausbildung und Beschäftigung.

Bereits einige Urteile

Gerichtlich ist geklärt, dass der vorschnelle oder automatische Ausspruch eines Beschäftigungsverbots eine unzulässige Diskriminierung der betreffenden Frau darstellt. Ebenso ist gerichtlich geklärt, dass das Unterlassen der präventiven Maßnahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, und damit vor allem das Unterlassen der Gefährdungsbeurteilung, eine diskriminierende Behandlung darstellt.

Gründe für Rückschritt

Wenn all dies normativ so gut fundiert und auch so eindeutig judiziert wird: Warum mehren sich dann seit der Reform die Stimmen, die von Rückschritten beim Mutterschutz sprechen? Ohne pauschalieren zu wollen und zu dürfen, lassen sich mehrere Gesichtspunkte anführen: Das Reformvorhaben ist gewaltig, denn jahrzehntelang wurde es versäumt, Praxiswissen für einen teilhabesichernden Mutterschutz zu sammeln.

Schon mit der Reform im allgemeinen Arbeitsschutz durch das 1996 mit gänzlich neuem Leitbild eingeführte Arbeitsschutzgesetz hat sich gezeigt, wie anspruchsvoll der Lernprozess für den kulturellen Wandel ist. Die vorausschauende betriebliche Arbeitsschutzorganisation braucht handhabbare Instrumente, kommunikationsbereite und gut vernetzte Akteur:innen sowie den fortlaufenden arbeitswissenschaftlichen Er- kenntnisprozess. Noch heute gibt es zahlreiche Betriebe ohne allgemeine Gefährdungsbeurteilung. Die Folge sind erhöhte Fehlbeanspruchungen und Arbeitsausfallzeiten. Wiederum funktioniert Mutterschutz dort besser, wo bereits der betriebliche Arbeitsschutz insgesamt kommunikativ aufgestellt ist.

Institutionen sind gefordert

Die Erkenntnis ist eindeutig: Mutterschutz muss als systemischer Teil des präventiven und kommunikativen Arbeitsschutzes umgesetzt werden. Aufsichtsbehörden, einschließlich der Berufsgenossenschaften, müssen Betriebe, Belegschaften, Interessenvertretungen und sonstige Verantwortliche in der Anwendung des teilhabesichernden Mutterschutzes unterstützen. Die mit dem gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisgewinn betrauten Institutionen müssen zügig die Lücken in der Forschung schließen. Gefordert sind hier vor allem die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und der Ausschuss für Mutterschutz am Bundes­familienministerium. Die betrieblichen Akteur:innen brauchen klare Erkenntnisse über die Risiken und geeigneten Schutzmaßnahmen im Mutterschutzfall. Die Verbreitung der Leitlinien der Kommission ist nur ein erster, aber wichtiger Schritt, um das neue Leitbild zu kommunizieren. (https://www.llv.li/files/avw/pdf-llv-avw-technik-as-kom2000_466de01.pdf)

Auswüchse des Ist-Zustands

Der Handlungsbedarf ist dringlich. Wenn Verantwortliche – etwa Vorgesetzte, Betriebsärzt:innen, Aufsichtsbeamt:innen – pauschale Tätigkeitsverbote aussprechen, statt auf fundierte Gefährdungsbeurteilungen zu setzen, werden Frauen genötigt, ihre Schwangerschaft zu verschweigen, um keine beruf­lichen Nachteile zu erleiden. Dabei bleibt der Mutterschutz auf der Strecke, im schlimmsten Fall mit unerkannten Risiken für Mutter und Kind. Zu beobachten sind zudem Fälle, in denen Schwangere nur weiterbeschäftigt werden, wenn sie ihre Arbeitgeber:innen und Vorgesetzten von etwaiger Haftung frei­stellen. All das stellt die Rechtslage auf den Kopf und ignoriert fundierte Erkenntnisse, wie sich risikoarmes Arbeiten im Gesundheitssektor ermöglichen lässt.

Rechtswidrige Praktiken

Prävention, Rehabilitation und Entschädigung sind allesamt Aufgaben der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber beziehungsweise der Unfallversicherung. Auch eine berufsbedingte Schädigung der Leibesfrucht, falls das trotz aller verantwortlicher Weiterbeschäftigung passiert, löst wie jede(r) andere Arbeitsunfall/Berufskrankheit die Versicherungsleistungen der Unfallversicherung aus. Arbeitgeber sind durch die gesetzliche Unfallversicherung weitestgehend von der eigenen Haftung befreit. Diese seit über 120 Jahren normierte sozialpolitische Lösung gilt natürlich auch für arbeitende Frauen.

Auch wenn der Gesetzgeber seine Reform des Mutterschutzgesetzes nicht an die Unfallversicherungsträger adressiert hat, sind diese dringend gefordert, den genannten rechtswidrigen Praktiken über die vermeintliche individuelle Haftung der Frauen entgegenzutreten und sich in den überfälligen Prozess zur Entwicklung gesicherter arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse einzubringen.

Fazit: Frauen mit Pioniergeist brauchen die Unterstützung aller Akteur:innen, damit sie ihre Fähigkeiten entfalten können, ohne sich oder ihr (werdendes) Kind zu schädigen.

Prof. Dr. jur. Katja Nebe hat den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht, Recht der Sozialen Sicherheit an der Universität Halle-Wittenberg inne. Die rechtswissenschaftliche Bewertung von Fragen zur Teilhabe an Arbeit ist ihr Schwerpunkt.

E-Mail: katja.nebe@jura.uni-halle.de
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