Leser:innenbrief

Zum Aspekt der Vereinbarkeit im Titelthema der Ausgabe 2 der ärztin erreichte uns folgende Zuschrift, die wir hier auszugsweise drucken.

Liebe Redaktion,

vielen Dank für die Ausgabe „Die nächste Generation“, die mir als 40-jähriger berufstätiger Ärztin mit drei Kindern sehr aus dem Herzen gesprochen hat. Beim Thema Vereinbarkeit sehe ich aber vor allem Notlösungen, die allenfalls individuell akzeptabel sind. Als teilzeitarbeitende Mutter mit ebenfalls teilzeitarbeitendem Arzt-Ehemann im Schichtdienst, die seit Jahren gemeinsam um gute Lösungen bei wechselnden Ansprüchen – den eigenen und denen der Kinder – ringen, finde ich das einfach frustrierend.

Klar ist eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen – und damit auch der Vereinbarkeit – nicht ohne Engagement der Kliniken, ohne Mehrkosten, ohne strukturelle Veränderungen zu haben, aber es kann für die Qualität des Gesundheitssystems auch nicht zuträglich sein, wenn am Ende in den Kliniken niemand mit Expertise mehr übrigbleibt, weil erfahrene Fachärztinnen und -ärzte spätestens mit dem dritten Kind in der Klinik das Handtuch schmeißen und wahlweise in die Forschung, die Naturheilkunde, ins Ausland oder mindestens in den ambulanten Bereich wechseln.

Ich möchte Ankes Erfahrungsbericht hinterfragen: Sie ist Fachärztin und arbeitet an drei Tagen in der Woche von 7:00 Uhr bis 15:30 Uhr. Mit welcher Begründung wird sie weniger für Operationen eingeteilt als ihre Kolleg:innen? Weil sie pünktlich nach Ende ihrer vertraglich geregelten und bezahlten Arbeitszeit nach Hause gehen will/darf/muss? Ist das ein Privileg, für das sie „bezahlen“ muss? Sollte das nicht eine alltägliche Selbstverständlichkeit sein, mit seltenen Ausnahmen, wenn Notfälle zu behandeln sind?

Dass Anke mit ihrer reduzierten Stelle keine Oberärztin wird, hat der Chef klargemacht. Das bleibt vermutlich den männ­lichen Kollegen vorbehalten, deren Ehefrauen – wie Anke – zuhause die Care-Arbeit zum Preis ihrer eigenen Karriere und ihrer Rentenansprüche übernehmen.

Die restlichen 40 Prozent von Ankes Stelle wurden nicht besetzt. Was Anke nicht kompensiert, schultern die 100 Prozent tätigen Kolleg:innen, die verständlicherweise nicht begeistert sind – sich aber auch nicht an zuständiger Stelle über dieses strukturelle Problem beschweren.

Wer sich vermutlich ins Fäustchen lacht, ist der Chef. Er spart ordentlich Personalkosten und die Arbeit ist trotzdem gemacht. Warum sollte er also die restlichen Stellenanteile wieder besetzen?

Dass Anke überhaupt volle Tage arbeiten kann, liegt vermutlich daran, dass sie einen Partner hat, der an ihren Arbeitstagen das Kind in die Betreuungseinrichtung bringen und/oder ab­holen kann. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass das selbst in Ostdeutschland, wo Krippe, Kindergarten und der für alle zugängliche Grundschulhort von 6:00 Uhr bis 17:00 Uhr geöffnet haben, sonst echt schwierig wäre.

Drei Einrichtungen vor morgens um 6:45 Uhr angefahren zu haben (denn wer will schon seine Sechsjährige morgens um halb sieben im Winter im Dunkeln und in der Kälte alleine auf die Straße schicken?) und nachmittags alle drei wieder einsammeln, wenn man selber einen Achtstundentag hinter sich hat, das ist Hardcore. Ganz zu schweigen davon, wie ein durchschnittliches Zweijähriges drauf ist, wenn es einen Zehn­stundentag in der Krippe hinter sich hat. Diejenige Mutter, die dann noch Quality Time mit ihren Kindern verbringt, habe ich noch nicht kennengelernt. Vielleicht sollte man nicht zu streng sein – wenn solche Arrangements nur nicht die be­stehenden Verhältnisse zementieren würden.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. med. Anne-Kathrin Geier, M.Sc. in Public Health; Leipzig
Mehr zum Thema