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Regionalgruppe Lübeck

Interview: Hormonwirksame Substanzen – ein Grund zur Sorge?

Die Wechselwirkung von Umwelt und Gesundheit rückt durch den Klimawandel zunehmend in den Fokus. Neben den katastrophalen Folgen der von Menschen verursachten Erderwärmung gibt es noch ein weiteres bedenkliches Thema in diesem Bereich: hormonwirksame Substanzen. Dr. med. Esther Nitsche, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Kinder-Endokrinologie und Neonatologie aus Lübeck, hat dazu einen Vortrag gehalten. Wir haben die Referentin im Anschluss interviewt:

Frau Dr. Nitsche, sind hormonaktive Substanzen ein Grund zur Sorge?

Ja, ein sehr großer sogar. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erachtet sie als zweitgrößte Bedrohung für das Fort­leben des Menschen – nach der Klimaerwärmung.

Was genau sind hormonaktive Substanzen?

In Europa sind etwa 85 000 Chemikalien gelistet. Mindestens 1000 können nachweislich Hormonsysteme stören. Diese Endocrine disrupting chemicals (EDC) wirken ganz unterschiedlich, sodass insgesamt alle bekannten Hormonsysteme be­troffen sind und alle Lebensalter. Einige durch EDC verursachte Veränderungen können sogar weitervererbt werden.

Gibt es eine offizielle Definition?

Die Definition der WHO lautet: Ein endokriner Disruptor ist eine von außen einwirkende Substanz, die die Funktion endokriner Systeme verändert und dadurch gesundheitsschädlich auf ein Lebewesen, dessen Nachkommen oder eine Untergruppe dieser Lebewesen wirkt.

Welche Erkrankungen können resultieren?


Erkrankungen, die in den letzten Jahren deutlich zugenommen haben und die mit der Wirkung von EDC in Zusammenhang gebracht werden, sind unter anderem Autismus, ADHS, Hoden­hochstand, Adipositas, Diabetes, Störungen der Fruchtbarkeit, Brust- und Prostatakrebs. Die Liste ist noch viel länger. Die Kosten für das Gesundheitssystem sind erheblich.

Wie ist man auf die Bedeutung dieser Substanzen aufmerksam geworden?

Interessant ist, dass viele Wissenschaftlerinnen auf diesem Gebiet geforscht haben. So beobachtete in den 1950er Jahren Rachel Carson, eine Meeresbiologin in den USA, als eine der ersten, dass chemische Substanzen Hormonsysteme stören können und dass diese Stoffe sich teilweise in der Nahrungskette anreichern. Kurz zuvor hatte man in Australien bemerkt, dass Schafe nach dem Fressen großer Mengen einer besonderen Kleeart erhebliche Probleme bei der Geschlechtsentwicklung, Pubertät und Fruchtbarkeit entwickelten.

Wie geht die Politik damit um?


Es gibt immer wieder einzelne Verbote. So ist DDT in Deutschland seit 1977 verboten, es persistiert aber noch in der Umwelt. BPA (Bisphenol A) ist bei uns seit 2011 für Säuglingsmilch­flaschen und Schnuller verboten, in Belgien, Dänemark und Schweden ist BPA in Nahrungsmittelverpackungen generell verboten. In der EU gilt ein Verbot von PVC mit Phthalaten als Weichmacher in Kinderspielzeug seit 1999. Frankreich drängt auf ein EU-weites Verbot von BPA in Thermodruckerpapier, al­so etwa in Kassenbons.

Reicht das?

Nein. Diese Maßnahmen greifen zu kurz, wirtschaftliche Inter­essen konkurrieren! Neben Appellen an die Politik kann und sollte auch jede:r Einzelne aktiv werden und den Kontakt mit EDCs für sich und die Familie möglichst geringhalten und auch Patienten und Patientinnen aufmerksam machen.

Einige stark hormonaktive Substanzen haben wir zusammengestellt: Wo sie vorkommen und wie sie sich vermeiden lassen.

Phthalate: etwa in Verpackungen und Behältern aus PVC. Tipp: Kein Kinderspielzeug aus PVC kaufen, ebenso keine PVC-Behälter und Einmalverpackungen für Nahrungsmittel aus PVC. Vor allem in Fastfood finden sich ev. Phthalate aus der Verpackung. Kein Plastik in der Mikrowelle erhitzen oder im Geschirrspüler reinigen. Das raut die Oberfläche auf. Darum auch verkratzte Behälter entsorgen. Bei Kosmetik und Pflege auf phthalatfreie Produkte achten (parabenfrei, triclosanfrei, benzophenonfrei).

Phytohormone: etwa in Soja und Sojaprodukten, aber auch in ätherischen Ölen wie Lavendel, Eukalyptus, Minzen, Zimt und anderen. Tipp: Soja als Eiweißquelle nur bei zwingender Indikation verwenden. Keine Säuglingsnahrung mit Sojaprodukten kaufen. Ätherische Öle in der Schwangerschaft, für Säuglinge und Kleinkinder nicht nutzen.

Bisphenol A (BPA): zum Beispiel in Lebensmittel- und Getränkedosen, Kassenbons und Artikeln aus Polycarbonat (Re­cyclingcode 7). Tipp: Verzicht auf Konserven und Dosengetränke. Lebensmittelverpackungen aus Polycarbonat meiden.

Perfluorierte Polymere (PTFE, PFOA): in der Antihaftbe­schichtung von Kochgeschirr und in schmutzabweisenden Geweben etwa von Tischdecken und Polstern. Tipp: Töpfe und Pfannen mit Keramikbeschichtungen wählen.

Polybromierte Diphenylether (PBDE): etwa in der Rückseite von Teppichböden, in Vorhängen und Polstern. In die Nahrung geraten sie über Staub. Tipp: Defekte Polster entsorgen, mit HEPA-Filter staubsaugen, regelmäßig lüften. Werden bei Renovierungen etwa Teppiche entfernt, sollten Schwangere, Säuglinge und Kinder die Wohnung zwei bis drei Tage meiden.

Acrylamide: entstehen beim starken Erhitzen von stärkehaltigen Nahrungsmitteln, etwa in Kartoffelchips. Tipp: Scharf Gebratenes und Frittiertes sollte die Ausnahme sein.

Organische Quecksilberverbindungen: vor allem in Meeresfisch und Meeresfrüchten. Als besonders belastet gelten Ma­krele, Schwertfisch, Ziegelbarsch und Hai. Tipp: Wenig belas­tete Arten wie Wildlachs oder Heilbutt bevorzugen.

Das Interview führte Dr. med. Tonia Iblher. Sie ist mit PD Dr. med. Doreen Richardt Vorsitzende der Lübecker Regionalgruppe.
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