Aus Zeitmangel kaum Genderforschung zu Corona?

Wie gut ist die medizinische Forschung zu Corona in Bezug auf Genderaspekte? Eine internationale Studie mit Beteiligung der Universität Bielefeld belegt eklatante Versäumnisse.

Obwohl sich das Coronavirus unterschiedlich auf Frauen und Männer auswirkt, stellt die große Mehrzahl der laufenden klinischen SARS-CoV-2- und Covid-19-Stu­dien keinen Bezug zu Geschlecht und Gender her. Das zeigt eine Metaanalyse von 4420 klinischen Studien in Nature Communications. Demnach sehen nur vier Prozent der Studien ausdrücklich vor, Geschlecht und Gender als Aspekte in ihre Analyse einzube­ziehen.

Fast kein Thema: Geschlechterunterschiede bei Covid-19
Ziemlich rasch hat sich in der Corona-Pandemie herausgestellt, Frauen und Männer sind von einer Covid-Erkrankung unterschiedlich betroffen sind. Eine mögliche Konsequenz wäre, dass Frauen und Männer medizinisch unterschiedlich behandelt werden müssten. Ebenfalls besteht ein Zusammenhang zwischen der sozialen Geschlechterrolle und der Wahrscheinlichkeit, sich mit dem Virus anzustecken: Frauen sind häufiger als Männer als Pflegekräfte tätig und arbeiten häufiger in Berufen mit viel Kontakt zu Kund:innen und Auftraggeber:innen. Dadurch steigt ihr Ansteckungsrisiko.

Gender? Thema nur bei Schwangerschaft

Für Fortschritte in der Versorgung von Covid-Betroffenen und einen besseren gesundheitspolitischen Umgang mit der Pandemie müssten Gender und Geschlecht in klinischen Studien darum dringend berücksichtig werden. Werden sie aber kaum. Die Studie analysierte Covid-19-Untersuchungen, die bei ClinicalTrials.gov eingetragen sind, darunter 1659 Beobachtungsstudien und 2475 Interventionsstudien.

Nur 178 Studien (4 Prozent) erwähnten Geschlecht oder Gender als geplante Variable in der Analyse. Weitere 237 Studien (5,4 Prozent) planten geschlechtsspezifische oder repräsentative Stichproben ein oder hoben die Bedeutung von Geschlecht oder Gender hervor. In 124 Studien (2,8 Prozent) waren die Teilnehmenden jeweils ausschließlich Frauen oder Männer. 100 dieser Studien untersuchten, wie sich das Virus oder eine bestimmte Behandlung auf Frauen auswirkt. Die weiteren 24 befassten sich mit den Effekten auf Männer. Studien mit dem Fokus auf Frauen untersuchten meistens, wie Covid-19 den Ausgang von Schwangerschaften beeinflusst.

Mögliche Gründe


Prof’in Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione: Forscht in Bielefeld und am Radboud University Medical Center in Nijmegen, Niederlande.
Foto: © Universität Bielefeld
Ein möglicher Grund für die Vernachlässigung von Daten zu Geschlecht und Gender ist der hohe Zeitdruck. Dr. med Sabine Oertelt-Prigione ist die Letztautorin der Studie. Sie hat die Professur für geschlechtersensible Medizin an der noch neuen Medizinischen Fakultät an der Universität Bielefeld inne. Sie sagt: „Manche Forschenden befürchten, sie müssten mehr Proband:innen einbeziehen, wenn ihre Studie Geschlechtsunterschiede berücksichtigen soll. Diese Forschenden nehmen an, dass die Zusammenstellung der Untersuchungsgruppe dadurch länger dauert.“

Insbesondere in der frühen Phase der Pandemie haben viele Arbeitsgruppen unter hohem Zeitdruck geforscht. Doch das Bewusstsein für die Genderforschung stieg auch später nicht. Der Anteil von Studienprotokollen mit dem Fokus Geschlecht und Gender auf ClinicalTrials.gov erhöhte sich nicht. In einer weiteren Analyse der publizierten Forschungsartikel zu klinischen Studien war die Aufmerksamkeit für das Thema Geschlecht und Gender zwar stärker. Trotzdem wurde dieser Aspekt auch hier nur in einem Fünftel der Studien erfasst oder in der Analyse erwähnt. Oertelt- Prigione hält es für einen „unerlässlichen Schritt in Richtung einer personalisierten Medizin“, Unterschiede in Bezug auf das Geschlecht zu berücksichtigen.
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