Leser:innenbrief

Zu Ausgabe 1 und 2 der ärztin 2020 erreichte uns folgende Zuschrift, die wir hier auszugsweise drucken.

Sehr geehrte Frau Dr. Groß,

für die höchst differenzierte, professio­nelle und facettenreiche Ausgabe der ärztin 1/2020 zum Thema „Ärztinnen in Ost und West“ möchte ich mich bedanken. Ich kann den geschilderten Erfahrungen in jeglicher Hinsicht zustimmen. Egal, wohin ich schaue, ob bei Kolleginnen der eigenen oder einer anderen Fachgruppe, es bietet sich das gleiche Bild: Sowohl im stationären als auch im ambulanten Sektor sind Ärztinnen systematisch benach­teiligt.

Zwar wurde in den Artikeln nicht explizit auf die Situation der niedergelassenen beziehungsweise ambulant tätigen Ärztinnen eingegangen, aber ich gehe aufgrund meiner Erfahrung als ambulant angestellte Fachärztin stark davon aus, dass unter uns ähnliche Zustände wie bei Führungskräften in Kliniken herrschen: Ärztinnen sind als Führungskräfte in der Niederlassung absolut unter­repräsentiert!

Ich meine sogar, dass sich ein „back­lash“ (im Sinne eines Rückfalls) abzeichnet. Zum Beispiel bekommen in meinem Fachgebiet immer weniger Ärztinnen die Möglichkeit, als Teilhaberinnen in die Führungsriege einer Praxis aufzusteigen, selbst wenn sie fachlich hoch qualifiziert oder sogar habilitiert sind. Analog zur Umfrage in der ärztin kann ich folgendes „Blitzbild“ aus dem Umfeld von mir und neun früheren Kommilitoninnen, mit denen ich noch in Kontakt stehe, beitragen:
  • Wir haben an einer ostdeutschen Universität studiert, aber nur eine ist in den neuen Bundesländern geblieben.
  • Neun von zehn sind verheiratet und haben Kinder, die meisten mehrere.
  • Neun haben ihre Facharztanerkennung erreicht. Eine wollte sich habilitieren, wurde aber nicht gefördert, während sich ihre männlichen Kollegen habilitieren oder Karriere machen konnten.
  • Vier arbeiten zu 100 Prozent, zwei zu 50 bis 70 Prozent, drei sind geringfügig beschäftigt und eine ist nicht erwerbstätig. Interessanterweise haben die drei geringfügig Beschäftigten und die eine Nichterwerbstätige recht karriereorientierte Ehemänner.
  • Drei sind im stationären Sektor geblieben, sechs sind im ambulanten Sektor tätig, davon ist eine selbstständig und die Einzige in einer echten Führungsposition.
Diese Fakten scheinen sich mit den von Ihnen in der ärztin präsentierten zu decken. Meiner Meinung nach gibt es auch einen direkten Bezug zwischen der systematischen Benachteiligung von Ärztinnen im deutschen Gesundheitswesen und Mobbing, von dem Sie im Artikel über PD Dr. Doreen Richardt in der Ausgabe 2/2020 berichteten. Mobbing ist für viele von uns ein Normalzustand, der uns Ärztinnen häufig gar nicht bewusst ist, weil wir schon seit unserem Studium, spätestens aber seit unserer Weiterbildung keine anderen Umgangsformen zwischen (männlichen) Vorgesetzen und (weiblichen) Angestellten kennen.

Umso mehr danke ich Ihnen, dass Sie durch die Verleihung der Auszeichnung „Mutige Löwin“ an PD Dr. Doreen Richardt auf diese Problematik aufmerksam gemacht haben und damit allen Ärztinnen, die (so wie ich) Mobbing er­leben, Mut machen und den Rücken stärken.

Leider können sich Betroffene erst dann wehren, wenn, wie bei Dr. Richardt, arbeitsrechtliche Schritte möglich sind. Meistens findet das Mobbing jedoch auf einer so subtilen Ebene statt, dass dem Vorgesetzten/Arbeitgeber kaum ein Fehlverhalten nachgewiesen werden kann, das vor Gericht Bestand hat.

Dies alles sind inakzeptable Tatsachen und Verhältnisse, nicht nur aus Sicht von uns Ärztinnen, sondern auch aus Sicht der Arbeitgeber:innen (Stichwort Zusammenhang von Diversität und wirtschaftlichem Erfolg eines Unternehmens) und der Patient:innen (Stichwort Gendermedizin). Wenn wir in Deutschland weiter eine „gute“ Medizin anbieten wollen, kön­nen wir uns diese Zustände als Gesellschaft und Nation nicht mehr leisten!

Name und Anschrift der Leserbriefschreiberin sind der Redaktion bekannt.
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